Andrea Sick, Ulrike Bergermann, Elke Bippus u.a. (Hrsg.):
Eingreifen. Viren, Modelle, Tricks.
Bremen [thealit] 2003
Band zum thealit Laboratorium vom 29.01.2003 – 16.03.2003.
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Modelle sollen erklären oder entwerfen, strenggenommen tun sie stets beides und halten so ihre User zum Narren. Modelle sind zudem das, was zwischen Disziplinen wandern kann. Sie strukturieren das Denkbare, wenn sie nur ansteckend genug sind, um mit immer neuem Leben gefüllt zu werden und ebenso Bedingung wie Effekt solcher Leben zu sein. Auch an den Grenzen von Natur- und Kulturwissenschaften, Technik und biologischen wie politischen Körpern greifen Modelle ein. Besonders die <Zentralspeicher der Information: Gene> und die <Umprogrammierer des Eigenen: Viren> haben in letzer Zeit die Grenzen nationaler Souveränität, persönlicher Identität, digitaler Sicherheit, geschlechtlicher Stabilität und Symbolik zu deuten geholfen. Wir laden mit dem Laboratorium zur Erweiterung dieser Modellierungen ein:
Wie steht es um die Modellhaftigkeit von Bakterien, Prionen, Würmern, Parasiten? Wie bildeten sich andere biologische oder physikalische Darstellungstricks heraus, wie wurden Eizelle, Sperma oder Mitochondrien entworfen? Konnte die unanschauliche Teilchenphysik unser Weltbild infizieren, wie wird ein Molekül erkennbar, ist es immer schon ein Modell, und wie wird ein Molekül zu einer Botschaft? Ist der widerständige Held Virus subversiv abgeschautes Modell - trifft das eher für David und Robin Hood, die heutige Feministin, Queer Studies, al-Quaida oder Globalisierungsgegner zu, oder hat die weiße patriarchale Industriegesellschaft die wirkungsvollsten Minimaleingriffe zu verzeichnen?
Eingreifende Modelle ermöglichen das wechselwirksame Zusammenstellen, vielleicht Hybridisierungen, etwa der Rhetorizität des Körpers, von Performanz und Ansteckung, Funktion und Ökonomie von Zellfabriken, der Grenze von Leben und Nicht-Leben, Vorbild und Kopie, den Erkrankungen von Rechnern, heimlich-schlafender Besessenheit oder der Wanderwege medialer Codes. Eine Fertilisation zwischen den Disziplinen wie Info-, Bio-, Politikwissenschaft und Medientheorie ist Voraussetzung wie auch Resultat eingreifender Modelle und befragt Innen und Außen, Kultur und Natur, Materialität und Sprache, eigen und fremd. Etwa in biologischer Kriegsführung, Verwaltung, Disziplinierung von bedrohlichen Kranken oder zur Erkennbarkeit von Schläfern, Attentätern und Terroristen. Diese Beispiele sind Eindringlinge in vielfacher Hinsicht und machen es möglich, Grenzen von Disziplinen, Institutionen, Sozietäten und Körpern, zu untersuchen, als eigenes border engineering.
Das Prinzip heimlicher Ansteckung und das Wecken verborgener Erregung schlummert riskant nicht nur in den eingreifenden Modellen, die z.B. als Virus, Agent oder als Charisma bekannt sind, sondern bestimmt als Strategie der Fallenstellung und Überlistung alle eingreifenden Modelle. Eindringlinge müssen sich üblicherweise durch Maskerade Eintritt verschaffen; Impfung wiederum als Ähnlichmachung mit den betrügerischen Grenzgängern kann noch den klügsten Schutz bieten.
Intervenierende Modelle sind oft winzig. Diese sind (wie das Beispiel des "Atoms" zeigt) schon lange beliebt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts erwies sich insbesondere die Molekularisierung als methodisches Modell der neuen Biowissenschaften, welches die Formulierung und Umsetzung allgemeiner Lebensprinzipien ermöglichte. Mikrobiologische Systeme wie Bakterien und Viren wurden zu zentralen Bausteinen, heute durch cyberwissenschaftliche Konzepte wie Selbstorganisation, Rückkopplung und Emergenz versetzt, die auch zur Generierung von Forschungsbereichen wie Artifical Life, Robotik, Gencomputing beitragen.
So kann der Forschungsgegenstand Virus beispielsweise Anlaß sein, diskursive oder technische Grenzen, Transformationen und Übersetzungsvorgänge zwischen biologischen und informationstechnischen Diskursen zu befragen. Zentrale Begriffe der Virologie wie "Information” oder "Organismus” werden seit der Mitte des 20.Jahrhunderts in Molekularbiologie und Kybernetik, später der Informatik verwendet und durchwandern damit die Grenzen der Diskurse, die sie hervorgebracht haben. Translation, Transkription, Botschaft, Transfer, Codierung revisited.
Auch die Visualisierung, ob von Abstraktem, Kleinem oder kozeptuell Unsichtbarem, kann hier eine Rolle spielen." Im Modell stellt sich ein doppeltes medientheoretisches Problem: Wie funktioniert die Übertragung durch das Modell? und das der Hervorbringung des zu Untersuchenden. Wenn Dinge dazu gebracht werden müssen, sich selbst darzustellen, fallen wissenschaftliches Objekt und Zeichen zusammen. Hat dann das Labor das Gefundene konstruiert, wie es den Geisteswissenschaften schon lange vorgehalten wird? Welche Muster liegen dem Neuen zugrunde, wie kann man aber trotzdem an Eigenständigkeit oder Neuheit von Modellorganismen und Gedankenfiguren festhalten?
Die Erarbeitung verschiedener Modelle ermöglicht schließlich Blicke auf die Modellhaftigkeiten, die in uns eingreifen und die uns eingreifen machen. Wo ist Alien zu Hause? Ist Geschlecht ein Auslaufmodell? Wie wird Politik mit Biomodellen renaturalisiert? Kann man einen Ohrwurm loswerden?
(Ulrike Bergermann, Elke Bippus, Marion Herz, Claudia Reiche, Andrea Sick, Jutta Weber)
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